«Kunst ist die höchste Form von Hoffnung», sagte Gerhard Richter im Jahr 1982. Der deutsche Maler, der soeben 92 Jahre alt geworden ist und als einer der bedeutendsten bildenden Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts gilt, hat den Prozess des Kunstschaffens mehrfach mit einem Akt des Glaubens verglichen. Für ihn ist es ein Weg über die materielle Welt hinaus – ein Mittel, Transzendenz erfahrbar zu machen. Mit seinem Werk, das den Brückenschlag zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion wagt, hat er sowohl die formalen als auch die konzeptionellen Grenzen der Malerei konsequent ausgetestet. Sie ist das Medium, dem er während seiner gesamten Karriere treu geblieben ist, auch in Zeiten, in denen seine Bilder bei der Kritik in Ungnade gefallen waren.
Richters Auseinandersetzung mit dem Potenzial der Kunst, das Erhabene zu erreichen oder zumindest darzustellen, steht im Mittelpunkt einer faszinierenden neuen gemeinsamen Ausstellung, Gerhard Richter: Engadin, die an drei Ausstellungsorten im Engadin stattfindet: bei Hauser & Wirth, im Segantini Museum in St. Moritz sowie im Nietzsche-Haus in Sils. Diesen zauberhaften Ort besuchte Richter 1989 zum ersten Mal und verbrachte danach 25 Jahre lang regelmässig Sommer- und Winterferien dort.
Eine ätherische Schönheit
Zutiefst beeindruckt von der Engadiner Landschaft, kehrte Richter mehr als 25 Jahre lang regelmässig für Sommer- und Winterurlaube in die Gegend zurück und unternahm jeweils lange Wanderungen, bei denen er die Landschaft mit seiner Kamera einfing. Diese Aufnahmen wurden zum Ausgangsmaterial für eine Reihe von Werken, die die unendliche Vielfalt der Natur illustrieren: ihre ätherische Schönheit, aber auch ihre übermächtige Isolation. Mehr als 70 Werke aus Museen und Privatsammlungen, darunter Gemälde, übermalte Fotografien, Zeichnungen und Objekte, zeugen von der Faszination, die das Oberengadin auf ihn ausübte.
Für den Kurator Dieter Schwarz, einen führenden Kenner des Werks von Richter, der den Künstler im Engadin bekannt gemacht hat, ist die Ausstellung bedeutsam, weil sie «den Beginn eines neuen Kapitels in seiner Landschaftsmalerei darstellt, ein Gegenstück zu seinen abstrakten Werken».
Richter interessierte sich ganz offensichtlich für die deutsche Romantik des 19. Jahrhunderts, deren Protagonisten der Natur einen metaphysischen Status verliehen. Dennoch scheint es in seinen eigenen Arbeiten weniger um die Verherrlichung der Landschaft zu gehen als vielmehr darum, seine Eindrücke von ihrem sich laufend verändernden Zustand festzuhalten.
Ein eindrückliches visuelles Experiment
Ein Teil dieser Ambiguität rührt von seiner einzigartigen kreativen Methode her: Wenn er nach einer Reise in die Schweiz in sein Kölner Atelier zurückkehrte, projizierte er die aufgenommenen Fotografien auf die Leinwand und nutzte sie dann als Vorlage für seine kreativen Kompositionen. Die noch feuchte Farbe verwischte er mit einem weichen Pinsel, um die Gemälde noch weiter von ihrem realen Ursprung zu entfernen und ihnen ein jenseitiges Gefühl zu verleihen.
Ein ebenso fesselndes visuelles Experiment sind Richters übermalte Fotografien, die ihren Ursprung in den «Farbnotizen» haben. Das waren Farbkleckse oder -tupfer, mit denen er seine Schnappschüsse besprenkelte, bevor er realisierte, dass die so kommentierten Bilder an sich interessant waren.
In diesen kleinformatigen, aber formvollendeten Werken, von denen mehr als 50 bei Hauser & Wirth und im Segantini Museum zu sehen sind, verwandeln sich Wahrzeichen der Engadiner Region durch den subtilen Auftrag von Öl- und Lackfarben in Meisterwerke der Abstraktion, seien es Schneeflocken vor einem Tannenwald, ein blühender Berghang oder ein in Flammen stehender Himmel.
Obwohl Richter vor allem als Maler bekannt ist, schuf er im Laufe seiner Karriere auch Skulpturen und Glasfenster (vor allem ein monumentales Glasfenster im Kölner Dom). So ist der verbindende rote Faden in dieser dreiteiligen Ausstellung tatsächlich ein Trio einer seiner dreidimensionalen Kreationen. 1992, als er eine Auswahl seiner Engadin-Fotografien im Nietzsche-Haus ausstellte, fertigte Richter eine Edition einer matt glänzenden Edelstahlkugel an, die die Farben und die Umgebung rundum reflektiert. Sie nimmt jetzt erneut einen Ehrenplatz im Segantini Museum in St. Moritz ein, während zwei weitere Kugeln aus der Serie in den anderen beiden Ausstellungsräumen zu sehen sind. Indem sie der atemberaubenden Alpenlandschaft, die sie umgibt, einen Spiegel vorhalten, erinnern diese Kugeln eindringlich an den Einfluss, den die Region auf Richter, wie auch auf so viele andere Künstler im Laufe der Jahrhunderte, ausgeübt hat. Wenn Kunst tatsächlich die höchste Form von Hoffnung ist, dann möge es lange einen solchen Ort geben, der ihre Entstehung inspiriert.
Gerhard Richter: Engadin, kuratiert von Dieter Schwarz, ist bis zum 13. April 2024 im Nietzsche-Haus, im Segantini Museum und bei Hauser & Wirth in St. Moritz zu sehen.