«Die Wahl des Hotelgeschirrs soll die Festigkeit und Passform soweit wie möglich vereinen», fordert Louis Leospo in der zweiten Auflage von 1918 seiner renommierten Abhandlung Traité d’industrie hotelière. «Am beliebtesten ist ein starkes Porzellan schlicht dekoriert oder mit einem goldenen Gewinde und dem Monogramm des Hauses verziert.»
Im Zeitpunkt der Eröffnung des Badrutt’s Palace Hotel 1896, in der Belle Époque, war feines Metallgeschirr sowohl beim Königshaus als auch bei der Aristokratie sehr beliebt.
Tafelgeschirr bestand zunächst aus Zinn, später aus Silber und sogar Gold und danach aus bemaltem Porzellan mit Goldrand und kobaltblauem Dekor.
Die ersten gehobenen Hotels bestellten zunächst gerne das berühmte Porzellan von Limoges, welches auf der ganzen Welt für seine Qualität und Feinheit bekannt war. Mit der Entwicklung der Tischkultur etablierten sich auch in der Schweiz Porzellanfabriken wie 1906 Langental, die ein schlagfestes Steingut auf den Markt brachte. Zuvor kauften die grossen Hotelbetriebe ihr Tafelgeschirr in England, mehrheitlich über einen Schweizer Importeur.
Einige solche Einkäufe kann das Badrutt’s Palace dank historischen Rechnungen nachweisen. Anhand verschiedener Bestellungen, welche Caspar Badrutt zwischen 1894 und 1897 an Kaiser & Pozzi im Engadiner Ort Samedan in Auftrag gab, konnten die Serien einiger Geschirrstücke bestimmt werden, die in den Kellern und Kammern des Hotels gefunden wurden.
Das erste Geschirrservice des Badrutt’s Palace kam von der britischen Porzellan- und Keramik-Manufaktur Royal Doulton und ist im Wattau-Design gehalten: ein weisser Teller mit einem kobaltblauen Spitzendekor am Rand. Dieses Porzellan war um 1895 wahrscheinlich im Hotel Savoy in London im Einsatz, wo es Hans Badrutt, der Sohn von Caspar Badrutt, während seiner dortigen Rezeptionstätigkeit gesehen haben muss. Etwa zur gleichen Zeit erwarb das Palace ein weiteres Porzellan-Service von Royal Doulton mit dem Selborne-Muster.
Dank den Bestellungen und den Fabrikationsnummern auf dem Geschirr wissen wir, dass Caspar bereits 1897 ein weiteres Royal-Doulton-Service durch die Basler Firma Kiefer erwarb, diesmal ein intensiv blau und rot bemaltes Nankin-Modell. Der Name leitet sich von Nanjing her, der Hauptstadt der Provinz Jiangsu in China, und ist ein untrüglicher Hinweis auf die Mode des späten 19. Jahrhunderts, als japanische und chinesische Kunst, Kultur und Innenarchitektur eine enorme Faszination auf Europa ausübten. Erst ganz kürzlich, im Frühling 2021, wurden in einem abgeschlossenen Schrank des alten Personalhauses Alpenrose über 500 Teile dieses Geschirrs wiedergefunden.
Im alten Tellerlager des Hotels werden noch viele historisch wertvolle Stücke aufbewahrt, etwa Limoges-Tassen für Schildkrötensuppe und geschliffene Weingläser aus Kristall, die alle ihre eigene Geschichte haben – ein Vermächtnis der Feste, der feinen Diners und der Feierlichkeiten, die im Hotel stattfanden. Die heutigen Gäste tragen weiter zu diesem Vermächtnis bei.
Tafelgeschirr in Zahlen
Nach dem Traité d’industrie hoteliere von Louis Leospo musste ein Hotel mit einem Speisesaal von 200 Plätzen – so gross war das Badrutt’s Palace Hotel im Jahr des Erscheinens des Werks 1918 – über die folgenden Mengen an Geschirr verfügen:
- 750 Assiettes plates (Flache Teller)
- 250 Assiettes à soupe (Suppenteller)
- 500 Assiettes à dessert (Dessertteller)
- 250 Assiettes à fruits (Obstteller)
- 250 Assiettes à salade (Salatteller)
- 150 Coquetiers (Eierbecher)
- 280 Tasses à déjeuner avec sous-tasse (Frühstückstassen und -untertassen)
- 200 Tasses à thé avec sous-tasse (Teetassen und -untertassen)
- 200 Tasses à café avec sous-tasse (Kaffeetassen und -untertassen)
- 120 Pots à lait (Milchkannen)
- 100 Pots à crème (Rahmkännchen)
- Das sind 2,000 Teller und 680 Tassen mit Untertassen – eine ganz schön stattliche Sammlung!