Im 18. und 19. Jahrhundert war die «Grand Tour» die obligatorische Bildungsreise der Söhne und Töchter des Adels und betuchten Bürgertums. Diese Hotelgäste kamen in die Schweiz wie Pilger oder Zugvögel – auf der Suche nach wärmender Sonne und reiner Schweizer Bergluft. In der Belle Époque und auch schon davor besuchten viele dieser Reisenden auf dem Weg von oder nach Italien das Engadin, und die damaligen Hoteliers waren darauf bedacht, ihre Unterkünfte so komfortabel wie möglich zu gestalten, um sie zu einem längeren Aufenthalt zu animieren.
Also statteten sie ihre Etablissements mit modernen Annehmlichkeiten wie warmem Wasser und elektrischem Licht aus und kümmerten sich auch um das Seelenheil ihrer Besucher, indem sie Kapellen und Kirchen für verschiedene Glaubensrichtungen bauten. Darüber hinaus wurden Bilder und Statuen von Heiligen in den Gemeinschaftsräumen aufgestellt, damit sich die Gäste beschützt und sicher fühlten.
Johannes Badrutt kaufte 1886 L’Assomptione aus dem Familienbesitz in Italien, um an diese Tradition anzuknüpfen und um sein eigenes Kunstverständnis zur Schau zu stellen. Heute im Madonnensaal untergebracht, stellt L’Assomptione die Madonna mit Kind dar, flankiert vom Heiligen Sixtus, dem Papst, und der Heiligen Barbara, zu deren Füssen sich zwei Engelchen befinden. Diese beiden Putten sind wohl die bekanntesten Engel auf der ganzen Welt und erscheinen als eigenständiges Motiv auf unzähligen Weihnachtskarten und -dekorationen. Das Gemälde gilt als der «Zwilling» der Sixtinischen Madonna, auch Madonna di San Sisto genannt, einem Ölgemälde des italienischen Künstlers Raffael, das sich heute in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden befindet. Der Künstler von L’Assomptione ist nicht bestätigt. 1898 veröffentlichte Caspar Badrutt seine Nachforschungen über die Herkunft des Gemäldes. Es wird angenommen, dass es sich entweder um ein Original von Raffael oder um eine Kopie von einem seiner Schüler handelt. Im Jahr 2013 wurde es anhand einer Analyse auf den Anfang des 16. Jahrhunderts datiert, sodass es durchaus aus der Hand des grossen italienischen Renaissance-Meisters stammen könnte.
Das Werk ist auch Gegenstand der privaten Korrespondenz der Familie Badrutt. Im November 1887 wurde es in Augsburg restauriert, dann in Basel ausgestellt, ehe es in das Privathaus der Familie Badrutt gelangte. Da die Winter im Engadin hart sind und das grosse Gemälde nicht einfach zu transportieren war, blieb es bis zum späten Frühjahr in Chur. Am Weihnachtstag 1887 schreibt Sohn Caspar an seine Frau Urselina: «Vater ist sehr glücklich, dass die Madonna [L’Assomptione] sicher angekommen ist. In Basel waren es nur wenige Privilegierte, die das Gemälde zu sehen bekamen: einige Mitglieder des Kunstvereins und eine Handvoll speziell geladener Besucher. Ich habe noch nie ein schöneres Bild gesehen, ausser vielleicht im Vatikan. Sie wurde im Haus des Vaters in Chur ausgestellt, und 3.000 bis 4.000 Menschen kamen, um sie zu sehen. Vor allem Frauen haben bis zu zwei Stunden davor verweilt – ein wahres Wallfahrtswunder.»
Am 1. August 1888 schreibt Caspar an seine Frau: «Die Madonna ist ein echtes Ereignis. In den Hotels und Salons wird hier über nichts anderes gesprochen. Das Museum in Berlin hat bereits zwei Direktoren hierher geschickt, und mit Sicherheit werden weitere folgen. Alle sind sehr emotional um das Bild herum; sie sprechen nur mit leiser Stimme, den Kopf in die Hände gestützt. Viele verspüren den Wunsch, wiederzukommen, und die Besucher bewundern das Bild stets mit grossem Interesse.»
Die Enthüllung von L’Assomptione wurde als echtes Marketing-Event inszeniert. Als Caspar es nach dem Tod des Vaters 1889 von seinen Geschwistern kaufte, verblieb es zunächst bis 1901 im Haupteingang des Kulm-Hotels. Soweit wir wissen, hängt L’Assomptione seit 1902 im Badrutt’s Palace Hotel – der ehemalige Lesesaal wurde eigens für das riesige Gemälde umgestaltet. Im Jahr 2013 wurde feuerfestes Glas zum Schutz eingebaut und ein System zur schnellen Evakuierung hinter dem Rahmen versteckt.
Johannes Badrutt war ein fanatischer Sammler von Antiquitäten. Er reiste durch ganz Europa, um Gemälde, antike Möbel und Bücher zu erwerben, und hatte sein eigenes Museum im Hotel. Beim Kauf von L’Assomptione war ihm durchaus bewusst, dass er damit «Pilger» in sein Etablissement locken konnte. Die Gäste bewunderten das Gemälde und es wurde fast zu einem Privileg, es zu sehen. Noch heute ist es ein Highlight der Kunstsammlung des Badrutt’s Palace.