Das Leben ist voller Ironien, die man erst im Nachhinein richtig zu schätzen weiss. Heute ist das Badrutt’s Palace Hotel weltweit bekannt für seinen legendären serviet und die vielfältigen Möglichkeiten, die es seinen anspruchsvollen Gästen als Sommer- und Winter-Paradies bietet. Doch als Johannes Badrutt Sr. zum ersten Mal ins Engadin kam, bewogen ihn ganz andere Gründe.
Im frühen 19. Jahrhundert wurde sein kleines Heimatdorf Pagig im Schanfigg (GR) von einer Hungersnot heimgesucht, sodass er kurzerhand den Entschluss fasste, anderswo ein besseres Leben zu finden. Nachdem er seiner Familie vorausgegangen war, um Arbeit als Zimmermann, Maurer und Maler zu suchen, wendete sich sein Glück allmählich und 1816 liessen sie sich schliesslich im Engadin nieder. Der fleissige und zuverlässige Badrutt Sr. erwarb sich bei den Prominenten in der Umgebung schnell einen Ruf für seine Bauarbeiten, und nach einer Weile stieg auch sein Sohn Johannes in das Geschäft ein.
Johannes Badrutt Jr. erbte die Tugenden seines Vaters und bewies darüber hinaus einen scharfen Blick für unternehmerische Chancen. So übernahm er 1858 eine Pension in St. Moritz, benannte sie in «Engadiner Kulm» um und begann 1860 mit einem gross angelegten Expansionsprojekt, das die bescheidene Pension um zwei weitere Stockwerke und romantische architektonische Ausschmückungen ergänzte. Sie wurde zu einem Anziehungspunkt für zahlreiche Reisende aus ganz Europa, die im Sommer wegen der Heilquellen nach St. Moritz kamen.
Eine zufällige Begegnung sollte noch weitere Veränderungen bewirken. Der Überlieferung zufolge traf Badrutt Jr. auf eine Gruppe von vier Engländern, die an ihrem letzten Ferientag gut gelaunt auf ihren wunderschönen Sommeraufenthalt anstiessen. Allerdings freuten sie sich ganz und gar nicht auf nach England und den bevorstehenden nasskalten und nebligen Winter. Badrutt versprach den Gästen aus London, dass der Winter in St. Moritz mit seinem strahlenden Sonnenschein, dem weissen Schnee und der frischen Luft viel angenehmer sei und man ohne Jacke auf der Terrasse sitzen könne. Er bot ihnen eine freundschaftliche Wette an: Er würde sie diesen Winter als seine persönlichen Gäste im Hotel willkommen heissen, und ihnen für den Fall, dass sein Versprechen sich nicht bewahrheiten sollte, die Reisekosten aus eigener Tasche erstatten.
Die Gruppe nahm die Wette an und kehrte kurz vor Weihnachten zurück, dick vermummt für kaltes Winterwetter. Zu ihrem Erstaunen stellen sie jedoch fest, dass sie zu warm angezogen waren – Badrutt Jr. hatte Wort gehalten. Das Engadin im Winter war in der Tat so angenehm wie idyllisch. Die Gruppe blieb bis Ostern und kehrte danach noch viele Jahre immer wieder zurück, um den Winter hier zu verbringen, begleitet von Verwandten und Freunden. Die Wette war einem Impuls entsprungen, aber der erfinderische Badrutt Jr. begründete damit den internationalen Ruf von St. Moritz als Wintersport-Destination.
Sein Sohn Caspar Badrutt setzte das Werk seines Vaters fort, wenn auch an einem anderen Ort. Er kaufte 1884 das nahegelegene Beau Rivage Hotel, vergrösserte es und gab ihm 1896 den Namen «Badrutt’s Palace Hotel». Das war der Grundstein für das, was wir heute als das Hotel in seiner ursprünglichen Form kennen. Nach Caspars frühem Tod im Jahr 1904 setzte sich sein Sohn Hans das Ziel, das feinste Hotel in den Alpen zu schaffen, und behielt das Ruder bis 1953 fest in der Hand. Während dieser Zeit steuerte er das Hotel geschickt durch die Wirren der beiden Weltkriege, wurde Zeuge des Spektakels der Olympischen Winterspiele 1928 und 1948 und begründete den Ruf des Hauses als Rückzugsort für die internationale Elite.
Die Söhne Andrea und Hansjürg traten gemeinsam die Nachfolge von Vater Hans an und sorgten bis zum Tod von Andrea im Jahr 1998 für eine ausgewogene Kombination aus persönlichem Charme und tadellosem Management. Während ein amerikanisches Unternehmen, spezialisiert auf Luxushotellerie, das Haus übernahm und eine umfassende Renovation durchführte, realisierte Hansjürg, dass der persönliche Stil, die sein verstorbener Bruder vorgelebt hatte, der Schlüssel zum Erfolg gewesen war. Durch einen glücklichen Zufall suchte in diesem Zeitpunkt der erfahrene Hotelier Hans Wiedemann eine neue Herausforderung, und Hansjürg Badrutt erkannte schnell, dass er genau der Richtige für diese Rolle war. Hans Wiedemann leitete das Hotel von 2004 bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2018, doch amtet er auch weiterhin als Delegierter des Verwaltungsrats im Badrutt’s Palace Hotel und hält den hohen Standard der Gründer aufrecht, wie Gäste aus aller Welt bezeugen.
Heute, mehr als zwei Jahrhunderte nachdem der erste Badrutt nach St. Moritz kam, gibt es viele Geschichten zu erzählen. Während die Gäste im Laufe der Jahre kamen und gingen – und viele von ihnen kamen immer wieder – ist das Erbe des Hotels, das sich durch unermüdliche Exzellenz, herzlichen Empfang und gediegenen Luxus mit einer persönlichen Note auszeichnet, so stark wie eh und je.
Mit Dank an Heini Hoffmann für seine ursprüngliche Recherche zur Familie Badrutt.