Mein Sitz im Panoramawagen des Bernina Express ist wie ein Sessel, tief und so weich gepolstert, dass man wohlig darin versinken könnte. Aber ich setze mich auf, um hinauszusehen durch das hohe, gewölbte Fenster. Ich blicke nach vorne in das silbrig glänzende Sommerlicht und auf die kirschrote Lokomotive, die uns über das Schmalspurgleis zieht. Nachdem wir St. Moritz und den Inn hinter uns haben, lasse ich meinen Blick entlang des Bernina-Gebirges mit seinen 3’000 Meter hohen Gipfeln, den gelegentlichen Gletscherausläufern und hoch aufragenden Türmen aus freiliegendem Granit schweifen. Die Böschung ist gesäumt von alpiner Flora in allen Farben des Regenbogens, darunter Alpen-Frauenmantel, Bergdistel und Felsenjasmin. Auf den Weiden tun sich karamellfarbene Kühe an köstlichem Gras gütlich und vom Radweg, der neben der Schiene verläuft, winken uns gutgelaunte Velofahrer zu. Da, ganz plötzlich, kommt der ikonische Morteratschgletscher in Sicht, eine eisige silberne Strasse von solcher Schönheit, dass man im Kino zu sein glaubt. Doch die kleine rote Lokomotive fährt unbeirrt weiter, taucht in nachtschwarze Spiraltunnel ein und wieder heraus, während sie über nur 12 Kilometer 416 Höhenmeter überwindet.
Ich mache Ferien in St. Moritz, wohne im Badrutt’s Palace Hotel und unternehme heute einen Tagesausflug – eine traumhafte Panoramafahrt, von der ich schon viel gehört habe. Während wir klackernd entlang der als UNESCO-Weltkulturerbe geschützten Albula- und Berninastrecke fahren, erklärt der Audioguide im Waggon, dass die Route 55 Tunnels und 196 Brücken und Viadukte umfasst, die zum Grossteil anfangs des 20. Jahrhunderts konstruiert wurden. Diese Beispiele genialer Ingenieurskunst sind ein Markenzeichen der Schweizer Rhaetischen Bahn (RhB). Sie betreibt nicht nur den Bernina Express über eine Strecke von 122 Kilometern von der mittelalterlichen Stadt Chur, über St. Moritz nach Tirano in Norditalien, sondern auch den Glacier Express, der Zermatt mit St. Moritz verbindet und drei Kantone (VS, UR und GR) durchquert.
«Ich stamme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Disentis, das an der Strecke des Glacier Express liegt», erzählt mir Zugmanager Joe Bearth, der vorbeikommt, nachdem ich in St. Moritz eingestiegen bin. Im Eisenbahnwaggon, in dem bis zu 36 Personen Platz finden, herrscht ein aufgeregtes, mehrsprachiges Durcheinander. Bearth arbeitet seit sieben Jahren für die Rhätische Bahn und wird nicht müde, sich mit den internationalen Fahrgästen zu unterhalten, die der Bernina Express anzieht. «Mir macht es Spass, ihnen alles über die Bahn zu erzählen, angefangen bei der besonderen Konstruktion, die ca. 120 Jahre zurückliegt», sagt er. Mir gegenüber geniesst eine kleine Freundesgruppe aus Deutschland fröhlich eine Platte mit lokalem Käse aus dem Gourmet-Snackwagen des Stewards. Eine junge australische Familie kauft einen knuddeligen Steinbock aus dem Souvenirwagen. Und immer wieder greifen die Passagiere zu ihren Kameras, um die idyllische Landschaft einzufangen. Niemand starrt auf sein Handy, obwohl der Wagen mit WLAN ausgestattet ist.
Als wir uns an einem Duo von Bergseen in Aquamarin- und Türkistönen vorbeischlängeln, halten wir alle buchstäblich den Atem an. «Lago Bianco und dann Lej Nair», so die Ansage des Zugmanagers. Der Streckenabschnitt über den Berninapass ist mit mehr als 2’253 Metern über dem Meeresspiegel der höchstgelegene Europas. Die Gebirgsbahn ist auch im Winter in Betrieb, wenn das Trassee wie eine Langlaufloipe in einer Marzipanlandschaft anmutet. Aber heute ist es hell und sommerlich: wohltuende Sonne, kühle Luft. Soeben kommt der Zug knarrend zum Stehen. Wir haben die Station Alp Grüm unter der silbernen Zunge des Palü-Gletschers erreicht. 5 Minuten Gelegenheit für spektakuläre Schnappschüsse.
Auch der bereits erwähnte Glacier Express klettert hoch hinauf, obwohl er im Schneckentempo unterwegs ist. Das hat ihm die Ehrung als «langsamster Schnellzug der Welt» eingebracht. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 39 Kilometern pro Stunde braucht er gemütliche acht Stunden für die 290 Kilometer zwischen Zermatt und St. Moritz. «Aber das ist nicht langsam genug», lacht Passagierin Carina Scheuringer, eine Fotografin aus Zürich. «Acht Stunden vergehen wie im Flug, während Sie die atemberaubende Berglandschaft und die Meisterwerke der Architektur aus der Blütezeit des Eisenbahnzeitalters bestaunen.» Ihrer Meinung nach ist das Landwasser-Viadukt, das auch auf der Strecke des Bernina Express zu sehen ist, das absolute Highlight. Dort, wo die Viamala-Schlucht die Berge in zwei Hälften schneidet, halten sechs Kalksteinbögen das Trassee 65 Meter über dem Fluss, der aus dieser Höhe wie ein Bach aussieht. Das imposante Viadukt mag der absolute Höhepunkt sein, aber die ganze Strecke ist spektakulär.
Während das Matterhorn hinter Zermatt in der Ferne verschwindet, schlängelt sich der Glacier Express durch Kiefern- und Lärchenwälder und über Weiden, auf denen die Käserhütten wie Spielzeugbausteine verstreut sind, und umgeht dabei unzählige Bergdörfer und Ortschaften mit Kirchen und Burgen. Im Anschluss folgt das Obere Rhonetal, wo sich die Weiler an die steilen Hänge klammern und die Seen in der Farbe von Onyx schimmern. Danach geht es hinauf zum Oberalppass auf 2’000 Meter über Meer, und bald darauf verschwindet der Glacier Express in der Rheinschlucht, dem Grand Canyon der Schweiz, und das Fensterkino zeigt weisse Felsformationen, 350 Meter hoch und vor 10’000 Jahren durch einen gewaltigen Erdrutsch entstanden.
An Bord können Sie ein Mittagessen bestellen – vielleicht eine Bündner Gerstensuppe mit luftgetrocknetem Rindfleisch oder Bündner Capuns (Mangold im Spätzliteig) – wobei viele der Zutaten aus der unmittelbaren Umgebung stammen. Doch inzwischen haben wir mit dem Bernina Express beinahe das italienische Tirano erreicht.
Bis dahin gibt es noch ein weiteres bauliches Highlight zu bestaunen – das verblüffende Kreisviadukt von Brusio mit seinen neun Bögen, deren Spannweite 10 Meter beträgt. Es führt den Zug in einer 360-Grad-Spirale nach unten und gilt als spektakulärstes Bauwerk der Strecke. Und damit sind wir schon im oberen Veltlin, wo hauptsächlich Wein- und Obstbau florieren. Bei der Einfahrt in die Stadt treffen die Gleise auf die Strasse und unsere kleine rote Lok schleust sich durch die Hauptstrasse von Tirano. Bevor wir die Rückreise antreten, haben wir zwei Stunden Zeit, ausreichend, um auf einer Piazza eine Pizza zu verspeisen. Ich schaue in die Gassen mit den sandfarbenen Stadthäusern, blicke hinauf zu den Türmen, die sich gegen den gebleichten Mittagshimmel abheben, und hinunter auf das Buch, das ich zum Lesen mitgebracht habe und das – wenn wundert’s – unberührt auf dem Tisch liegt. Die Landschaft in umgekehrter Richtung wird sicherlich nicht weniger spektakulär sein – und das alles passt perfekt in einen sechsstündigen Tagesausflug von St. Moritz aus, wohin ich mit unvergesslichen Erinnerungen an eine wahrlich atemberaubende Reise zurückkehre.
Für weitere Informationen über die Reservation von Plätzen im Bernina Express oder im Glacier Express kontaktieren Sie das Concierge-Desk im Badrutt’s Palace Hotel.