Was haben eine rustikale Gerstensuppe und ein tänzerisch leichtes Zander-Safran-Ceviche miteinander zu tun? Ganz einfach: Beide sind typisch für die alpine Küche, welche die Schweiz und vor allem auch den Bergkanton Graubünden prägt. Alpine Küche bedeutet seit jeher, aus dem in der Region Verfügbaren das Beste zu machen. Alpine Küche bedeutet aber auch, nicht in Traditionen zu erstarren, sondern stets Ideen und Wissen von aussen aufzunehmen. Andreas Caminada, Dreisternekoch und Schöpfer des Sharing-Restaurant-Konzepts IGNIV im Badrutt’s Palace Hotel, ist hierfür das beste Beispiel. Ihm gelingt es seit vielen Jahren, mit Zutaten aus der näheren Umgebung Gerichte zu erschaffen, für die Gourmets aus der ganzen Welt anreisen.
Fokus auf regionale Produkte
Weil er zum Beispiel das Fehlen eines Meeresanstosses in der Schweiz nicht als Handicap sieht, sondern als Chance, es im Umgang mit Süsswasserfischen aus den hiesigen Seen und Flüssen zu besonderer Meisterschaft zu bringen. Ein Produkt dieses Denkens ist das eingangs erwähnte Zander-Ceviche. Die Wurzeln der Zubereitungsart liegen in Peru, Fisch und Safran stammen aber aus der Schweiz. “Der Fokus auf Produkte aus der Region ist eine der grossen Triebfedern unserer Arbeit. Er öffnet den Blick für die verborgenen Qualitäten von vermeintlich längst Bekanntem, für den Facettenreichtum so mancher Pflanze und für die geschmacklichen Veränderungen, die sich durch traditionelle Techniken wie zum Beispiel Fermentieren ergeben”, erklärt Caminada.
Mit dieser Passion und Neugierde kocht auch Marcel Skibba, der im Sommer Caminadas rechte Hand auf Schloss Schauenstein ist und im Winter die Gäste des IGNIV St. Moritz im Badrutt’s Palace verwöhnt. Anders als sein Chef, der ausser bei Klassikern aus vergangenen Jahren ausschliesslich Schweizer Produkte verwendet, hat er im Rahmen der IGNIV-Philosophie aber die Freiheit, auch besondere Delikatessen aus dem Ausland in seine Kreationen einfliessen zu lassen: weissen und schwarzen Trüffel, Oscietra-Kaviar oder Kaisergranat etwa. Auf diese Weise ergibt sich eine überaus spannende – und vor allen Dingen unheimlich schmackhafte – Kombination von Aromen., die dem “Guide Michelin” seit Februar 2020 zwei Sterne wert ist.
Doch zurück zu Skibbas Mentor Caminada: Der ist längst nicht mehr nur Koch, sondern lässt auch sein eigenes Gemüse anbauen (im sonnigen Domleschg gedeihen sogar Artischocken!) oder fördert mit der eigenen Bäckerei und dem alljährlich im Herbst ausgerichteten Genussmarkt im historischen Städtchen Fürstenau das traditionelle Handwerk. Darüber hinaus hat sein Erfolg einen Paradigmenwechsel in der ambitionierten Schweizer Küche eingeläutet. Man schielt nicht mehr in erster Linie nach Frankreich oder Italien, sondern pflegt selbstbewusst die eigene – alpine – Identität und erhebt lange unterschätzte Produkte in den Adelsstand. So finden nun auch Schweinenacken oder Lammbauch den Weg auf die Teller von Spitzenrestaurants, und statt Zitrusfrüchten verwendet so mancher Koch inzwischen lieber Sanddorn, anstelle von Lachs oder Wolfsbarsch eine Seeforelle.
Das kulinarische Erbe der Schweizer Alpen
Doch auch sonst tut sich in der Schweiz eine Menge: Im vergangenen Sommer öffnete im ehemaligen Kapuzinerkloster von Stans das Culinarium Alpinum seine Tore. Dominik Flammer, Foodscout und Autor des Standardwerks “Das kulinarische Erbe der Alpen”, verwirklichte sich mit dem “Kompetenzzentrum für Kulinarik im Alpenraum” einen lange gehegten Wunsch. Neben dem Restaurant, das natürlich nur mit Produkten aus der näheren Umgebung und streng saisonal arbeitet, sind diverse Kurse und ein grosser Garten mit 500, teilweise vergessenen Beerenarten die zentralen Elemente der neu geschaffenen Institution. “Hier treffen sich Kochkünstlerinnen und Schnapsbrenner, Bäuerinnen und Metzger, Verkosterinnen und Sommeliers, um das kulinarische Erbe dieses einmaligen Kulturraums zu pflegen”, erklärt der Initiant.
Die Internetplattform patrimoineculinaire.ch listet derweil über 400 Spezialitäten aus dem ganzen Land auf – und leistet mit ihren detaillierten, kenntnisreichen Beschreibungen einen weiteren wertvollen Beitrag zur Stärkung des kulinarischen National- und Qualitätsbewusstseins. Klar, dass davon auch Landwirte und artisanale Produzenten wie Bäcker oder Metzger profitieren. Ludwig Hatecke, dessen Bacharia Alpina Hatecke mit Filialen in St. Moritz, Scuol, Zernez und Zürich als beste Metzgerei der Schweiz gilt, ist einer von ihnen. Oder Marcel Heinrich, der im Albulatal hocharomatische Bergkartoffeln anbaut und längst auch Städtern in weit entfernten Landesteilen ein Begriff ist.
Bei aller Liebe zur eigenen Küche bleibt die Schweiz aber auch ein Land, das seinen Nachbarn kulinarisch sehr zugetan ist. Allen voran den Italienern. Ausserhalb Italiens lässt es sich wohl nirgendwo in Europa besser italienisch speisen als zwischen Basel und St. Moritz. Eine Pizza – ob eine einfache Margherita oder die legendäre, mit Taleggio, Parmesan und Trüffel belegte Dama Bianca aus der Chesa Veglia – lieben sie ebenso sehr wie Pizzoccheri mit Bergkäse, St. Galler Kalbsbratwurst (immer ohne Senf!), frisch gehobeltes Bündnerfleisch, die Käsespezialitäten Raclette und Fondue oder geschnetzeltes Kalbfleisch Zürcher Art mit Rösti.
Apropos Rösti: Die gekochten, grob geraffelten und in heisser Bratbutter knusprig gerösteten Kartoffeln dienen in der Schweiz seit Generationen auch dazu, die Unterschiede zwischen den deutsch- und den französischsprachigen Landesteilen zu illustrieren. Man spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Röstigraben. Derlei Unterschiede gibt es auch in kulinarischer Hinsicht. Die Romands essen tatsächlich weit weniger Rösti als die Deutschschweizer und orientieren sich in ihrem Essverhalten mehr an Frankreich als an Graubünden, Zürich, St. Gallen oder Basel. In der Spitzengastronomie mit dem Restaurant de l’Hôtel de Ville in Crissier als Leuchtturm ebenso wie in einfacheren Lokalen und in den eigenen vier Wänden.
Der höchste der Genüsse – Schweizer Schokolade
Die Schokolade ist jedoch aus allen Landesteilen nicht wegzudenken. Sie gehört zur kulinarischen Schweiz wie der Käse und verdankt ihren Weltruf dem wunderbaren Schmelz, der auf eine Innovation des Berner Apothekersohns Rodolphe Lindt zurückgeht. Lindt vergass 1879 an einem Freitagabend seine Maschinen abzuschalten und fand nach dem Wochenende im Rührkessel eine unwiderstehlich duftende, glänzende und zartschmelzende Masse vor. Ein Schokoladendessert auf der Karte zu haben, sehen die meisten Köche in der Schweiz als Ehrensache an. Und seit ein paar Jahren floriert im ganzen Land die sogenannte Bean-to-Bar-Szene, deren Protagonisten es sich zur Aufgabe gemacht haben, Schokolade zu produzieren, die den ursprünglichen Geschmack der jeweiligen Kakaobohnen transportieren. Sie verarbeiten die Bohnen von Anfang bis Ende selbst und verzichten im Gegensatz zu Etablierten wie Lindt und Cailler auf die Zugabe von Milchpulver. Da ist es wieder, das für die Schweizer Kulinarik so typische Zusammengehen von Tradition und Innovation.
Alexander Kühn ist Gastrojournalist beim Tages-Anzeiger, einer der grössten Zürcher Zeitungen.