«The Space Between ist absichtlich mehrdeutig», sagt der 40-jährige britische Künstler Thomas J Price, dessen Schaffen disziplinübergreifend ist, über den Titel seiner Einzelausstellung, derzeit zu sehen in der Galerie Hauser & Wirth in St. Moritz. Bei der Ausstellung, so erklärt er, gehe es um «die Idee eines Raums zwischen Objekten, Menschen und dem Verständnis». Dabei wird jedoch das Unmittelbare transzendiert und spielt auf die Fähigkeit an, Raum für eine alternative Perspektive zu schaffen, oder, wie Price es ausdrückt, «ein Volumen an Potenzial für neue Arten des Verstehens».
Nehmen wir als Beispiel Sonic Work (Collective Palette #01), eine der zahlreichen Skulpturen des Künstlers, die derzeit in der Galerie Hauser & Wirth zu sehen sind. Das Werk, die gegossene Innenseite eines Ohrs, fängt den unsichtbaren Raum zwischen der Aussenwelt und unseren innersten Gedanken ein. Price präsentiert es als abstrakte Bronzeskulptur und stellt damit in Frage, wie wir das, was wir erfahren, in das umsetzen, was wir über die Welt denken.
Einflüsse und Inspirationen
Als Sohn einer britischen Mutter und eines jamaikanischen Vaters wurde Price in London geboren und wuchs in einem kreativen Elternhaus auf. Er absolvierte das Chelsea College of Art und machte seinen Master am Royal College of Art (RCA), an dem bereits seine Mutter Textilien studiert hatte. Er habe eigentlich Physiotherapeut werden wollen, sagt er, und habe sich erst gegen Ende seiner Teenagerjahre zugunsten seiner künstlerischen Berufung entschieden. «Am ersten Tag meines Kunstgrundstudiums wurde mir mit einem Mal klar, dass ich unbedingt Künstler werden wollte», erinnert er sich. «Ich liebte die Freiheit und die Art und Weise, wie der kreative Prozess es mir erlaubte, mein Leben zu filtern.»
Price begann 2001 mit einer Performance namens Licked auf sich aufmerksam zu machen. Dabei leckte er wiederholt an einer Galeriewand, in der Hoffnung, ein unsichtbares Kunstwerk zu schaffen, doch seine blutende Zunge hinterliess rote Spuren an den Wänden. In den 20 Jahren, die seither vergangen sind, hat er Materialien, Formate und traditionelle Methoden künstlerischen Schaffens manipuliert, um die Klischees und Erwartungen zu hinterfragen, die typisch mit der Betrachung von Kunst verbunden sind. Seine Arbeiten wurden international an renommierten Ausstellungsorten wie der National Portrait Gallery und der Royal Academy of Arts in London und The Power Plant in Toronto ausgestellt.
The Space Between vereint Werke aus dem gesamten Schaffen von Price, darunter auch zwei Videoarbeiten sowie eine Auswahl an klein- und grossformatigen Skulpturen. Die zwei Stockwerke der Galerie Hauser & Wirth in St. Moritz sind übersät mit Gesichtern und Figuren, die gewichtige Persönlichkeiten zu verewigen scheinen. In Wirklichkeit stammen sie aus unterschiedlichsten Quellen, von medial vermittelten Stereotypen und beobachteten Individuen bis hin zu Figuren, die sich an antike, klassische und neoklassische Monumentalplastiken anlehnen.
«Ich wollte das konventionelle Wertesystem der Porträtkunst und der Denkmäler individueller Exzellenz in Frage stellen», sagt Price über die Schaffung anonymer Skulpturen. «Meine fiktionalen Amalgame sind ein Versuch, eine Machtstruktur zu kritisieren, die uns mit dem impliziten Versprechen einer gesellschaftlichen Belohnung (Lob und Ruhm) zur Konformität zwingt. Indem ich die Betonung von einer wirklichen Person und des sie begleitenden Narrativs, das ja oft erfunden ist, ausschalte, will ich die Betrachtenden auf die psychologischen Wahrheiten aufmerksam machen, die wir alle teilen, und auf die Art und Weise, wie Denkmäler zur Aufrechterhaltung von Statushierarchien eingesetzt werden.»
Darstellung und Identität
Kostbare Materialien wie Marmor, Blattgold und Bronze kontrastieren mit den ungezwungenen Mienen und der lockeren Haltung der von Price Porträtierten. Statt einer bestimmten Person ein Denkmal zu setzen, verewigen sie alle und jeden; in Cover Up (The Reveal) rückt ein Mann seinen Kapuzenpulli zurecht; in Reaching Out schickteine Frau ein SMS; in Mental Structure #19 (Just Beyond This) hebteine männliche Büste das Kinn, um einen Bekannten zu grüssen. Die Plastiken stellen die Erfahrung einer schwarzen Person neu dar, indem sie die in den westlichen Medien häufig anzutreffenden Archetypen sowohl normalisieren als auch aufwerten. In der Serie Numen (Shifting Votive) wird das alltägliche, eher mit moderner Technik assoziierte Material Aluminium (wie es in Dosen, Autos und Flugzeugen zum Einsatz kommt) verwendet, um Formen zu schaffen, die an antike griechische, römische und ägyptische Kunst erinnern.
Price findet es ‹interessant›, dass häufig davon ausgegangen wird, er versuche, mit seinen Arbeiten, die Denkweise der Weissen zu verändern. «Meine ersten Darstellungen schwarzer Menschen waren inspiriert von meiner Erfahrung und der Faszination, wie eine emotionale Bindung zwischen Menschen zustandekommt», sagt er. «Ihre augenscheinliche Rasse war mir nicht sonderlich wichtig, bis ich von einem weissen Publikum darauf hingewiesen wurde. Ich habe dann weiterhin schwarze Menschen modelliert, um sie zu ‹normalisieren›, aber vor allem, um es den Betrachtenden zu ermöglichen, sich in den Werken wiederzuerkennen, entweder oberflächlich oder im Sinne einer ‹alltäglichen› Haltung.»
Viele der grossformatigen Plastiken von Price haben ihr Zuhause im Freien gefunden: mit Blick auf einen kalifornischen Weinberg, in ländlichen Gebieten Englands oder an den Ufern des Ontariosees in Kanada. Bei seinem ersten Besuch in St. Moritz zu Beginn dieses Jahres anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung stellte sich Price bei einem Mittagessen auf der Veranda des Badrutt’s Palace Hotels ganz plötzlich vor, seine Werke inmitten dieser spektakulären Landschaft des gefrorenen Sees und der umgebenden Berge zu inszenieren.
«Als ich diese unglaubliche und dramatische Landschaft sah, überkam mich sofort der Ehrgeiz, einige meiner grösseren Skulpturen hier aufzustellen und sie zur Geltung zu bringen», schmunzelt er. «Ich habe eine 12 Fuss (3,6 m) hohe figurative Bronzeskulptur mit dem Titel All In, die meiner Meinung nach sehr wirkungsvoll wäre, sowie eine Monumental-Version von Sonic Work (Collective Palette #01), die sich perfekt vor diesem prachtvollen Hintergrund ausnehmen würde.» In der Zwischenzeit können Besucherinnen und Besucher in St. Moritz in der Galerie Hauser & Wirth die grossen und kleinen Werke dieses aussergewöhnlichen britischen Künstlers bewundern.
Thomas J Price: The Space Between ist bei Hauser & Wirth St. Moritz bis zum 18. April 2022 zu sehen. Besuchen Sie die Website der Galerie hier für weitere Informationen.