Ich stehe mitten im rauschenden, klaren Wasser des Inns im traumhaften Oberengadin. Hoffnungsvoll werfe ich meine Angelschnur, an der ich eine kunstvoll imitierte Fliege befestigt habe, stromaufwärts. Bis zu den Knien im Wasser, wate ich gegen die Strömung und werfe an jeder Stelle aus, an der ich einen prächtigen Fisch vermute. Der Inn fliesst und sprudelt kräftig um mich herum und an mir vorbei, vor der Kulisse hoch aufragender schneebedeckter Berge, in Richtung St. Moritzersee und weiter nach Österreich, wo er in die Donau mündet und schliesslich ins ferne Schwarze Meer.
Und tatsächlich wird meine Fliege plötzlich von einem kleinen, munteren Flossenträger angesaugt, einer Bachforelle, die offenbar meine Attrappe unwiderstehlich fand. Schnell greife ich sie mit der Hand, um ihre schillernden Farben mit den roten und schwarzen Punkten zu bewundern, bevor ich sie schnurstracks wieder in die Freiheit entlasse. Dann blicke ich hinauf auf die mich umgebende Almwiese, die Ausläufer des Kiefernwaldes und die darüber aufragenden Granitgipfel, atme die kalte, frische Bergluft ein und geniesse diesen Augenblick. Die Sonne hat sich von Osten her auf den Weg gemacht und sich unbemerkt an mich herangeschlichen. Ich spüre ihre Wärme und lächle in mich hinein, wohl wissend, dass der ganze Vormittag mir gehört. Es ist Ende Juli und es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich lieber wäre, glauben Sie mir.
Fliegenfischen oder Flugangeln (weil auch andere Insekten imitiert werden können) ist eine Angeltechnik, bei der eine künstliche «Fliege» als Köder eingesetzt wird, um die Fische zum Anbiss zu verlocken. Es ist eine Kunst, die gute Technik und gutes Timing erfordert, ausserdem viel Geduld und ein gewisses Feingefühl, eine faszinierende Sportart, die Angeln und Jagen verbindet, und immer mehr jüngere Menschen sowie eine wachsende Zahl von Frauen in ihren Bann zieht. Etwa die Schauspielerinnen Emma Watson und Zac Efron sowie die Sängerin Rita Ora. Selbst die High-End-Streetwear kann sich seinem Einfluss nicht entziehen, waren doch jüngst auf den Laufstegen der exklusivsten Designer, darunter Louis Vuitton, von der Fliegenfischerei inspirierte Kreationen zu bewundern.
Und es verwundert nicht, dass immer mehr neue Fans hinzukommen. Denn Fliegenfischen ist ein Gesamterlebnis, bei dem der Fokus ganz auf der Natur und den Elementen liegt und bei dem man die Welt vergessen kann. Ausserdem stellt es hohe körperliche und geistige Ansprüche – und übt deshalb eine besondere Faszination aus. Sobald man im Wasser steht, wird man eins mit der Wildnis. Alle anderen Gedanken, die einem vielleicht durch den Kopf gehen, werden von der Strömung buchstäblich weggespült. Fliegenfischen entspannt, reinigt, heilt, gibt eine Perspektive und gleicht den oft überladenen und hektischen Alltag aus. Ganz gleich, ob Sie es allein, mit Freunden oder mit der Familie praktizieren, es ist eine Aktivität, die von Anfang an und das ganze Leben lang Spass macht und bei der man immer wieder dazulernt.
Nicht weit von hier flussabwärts befindet sich das legendäre Badrutt’s Palace Hotel, in dem ich mich einquartiert habe. Das Engadin bietet unglaublich viele Möglichkeiten für Outdoor-Enthusiasten, und das Hotel hat sich seit seiner Gründung auf diejenigen eingestellt, die das Gebiet in den Sommermonaten besuchen. Bei dieser Gelegenheit hat mir die Reception freundlicherweise meine Angelexpeditionen für die Dauer meines Aufenthalts organisiert. Es gibt Flugangel-Lehrer sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene. Im Kanton Graubünden haben Sie Zugang zu Flüssen, Bächen und Seen – sowohl im Tal als auch in den Bergen, wo Sie vom Ufer oder vom Boot aus Äsche, Bachforelle, Seesaibling, Bachsaibling und Seeforelle (Namaycush) angeln können. Es werden Tages- und Wochenkurse angeboten, in denen Sie das Fliegenfischen erlernen, Ihre eigenen phantasievollen Fliegen binden oder einfach Ihre Wurftechnik perfektionieren können. Auch geführte Tagesausflüge erfreuen sich grosser Beliebtheit.
Alle Ausrüstungsgegenstände können gemietet werden, aber wenn Sie Ihre eigene Ausrüstung mitbringen möchten, empfiehlt sich eine Fliegenrute und Rolle mit Gewicht 3-7 und einer Länge von 2,75 m bis 3,35 m, je nachdem, auf was für Fischarten Sie es abgesehen haben, und in welcher Art von Gewässer (Bach, Fluss oder See) Sie angeln wollen. Wenn Sie auf Forellen aus sind, eignen sich «gemusterte» Steinfliegen, Köcherfliegen und Maifliegen (Eintagsfliegen) gut – in verschiedenen Grössen und für die verschiedenen Stadien des Lebenszyklus der Fische. Abgesehen von «Nymphen» können in Flüssen und Seen auch «Streamer» eingesetzt werden, wenn man Fische anlocken will, die sich in der unteren Wassersäule aufhalten.
Zurück im Fluss werde ich Teil der Natur, und die Tiere, die sich von Natur aus zum Wasser hingezogen fühlen, sehen mich nicht mehr als Bedrohung an, sondern kommen schon fast zutraulich näher. Wer sich frühmorgens auf den Weg macht, kann im Engadin mit Murmeltieren, Rot- und Rehwild, Gämsen, Steinböcken, Eichhörnchen und Berghasen rechnen. Hoch in den Lüften schweben majestätisch Bussarde, Adler und Alpendohlen. Sie können Sturzflüge beobachten, Spechte klopfen hören und scheue Finken erspähen.
Das Engadin duftet und erstrahlt zu dieser Jahreszeit in den Farben der Wildblumen. Das Tal verläuft von Westen nach Osten entlang der Schweizer Alpen und wird von hoch aufragenden Bergen gesäumt – unter anderem von Bernina (4.049 Meter), Nair (3.056 Meter) und Muragl (3.157 Meter). Es mutet an, als würde ich mich in einem Amphitheater befinden, dessen Bühne der Fluss ist. Auf meinem weiteren Weg talaufwärts stosse ich auf Weiler, in denen die Bauern seit Menschengedenken ihre Ziegen und Rinder weiden lassen und Käse herstellen. Überall verstreut in der idyllischen Umgebung stehen robuste, die Zeiten überdauernde Hütten aus Holz und Stein. Von Zeit zu Zeit bewundere ich einen prachtvollen Fisch, der angebissen hat, aber ich kann mich auch an der wundervollen Landschaft rund herum nicht sattsehen. Ich halte inne und denke daran, wie gern ich all dies mit Ihnen teilen möchte.
Das Engadin bietet einige der besten Flüsse und Seen zum Fliegenfischen in den Alpen. Die Saison für das Fliegenfischen dauert vom 1. Mai bis Mitte September (Flüsse) und bis zum 31. Oktober (Seen). Der Concierge im Badrutt’s Palace Hotel empfiehlt Ihnen gerne einen Führer.