View of the Swiss Alps in summer

Gipfelstürmer

Hohe Gebirgsketten und dramatische Gipfel ziehen die Menschen seit Jahrhunderten in ihren Bann. Drei Gipfelstürmer des 21. Jahrhunderts erklären, was für sie den Reiz ausmacht. Wörter von Josh Sims

Vielfach zitiert ist der Ausspruch des schottisch- amerikanischen Forschers und Naturfreunds John Muir: «Die Berge rufen und ich muss gehen.» Mit diesem Satz identifizieren sich wohl alle, die der Anziehung der Bergwelt verfallen sind.

Die majestätische Bergwelt des Engadins hat schon unzählige Generationen inspiriert, darunter berühmte Künstler wie Giovanni Segantini, Alberto Giacometti, den englischen Maler J.M.W. Turner, Denker wie Friedrich Nietzsche und natürlich zahllose Bergsteiger.

Was macht die Berge so anziehend und warum rufen sie derart starke und bleibende Emotionen in uns hervor? Warum wollen so viele von uns in den Bergen leben und arbeiten, und was zieht uns aus der Ferne zurück zu ihnen? Hier spricht die Tower Revue mit drei Menschen, die sich immer wieder von den Bergen inspirieren lassen…

Wanderer, der in die Berge springt
Alexandra Nemeth in den Schweizer Alpen; Alexandra Nemeth

ALEXANDRA NEMETH, BERGSTEIGERIN

Alexandra Nemeth, die in St. Moritz lebt, kam im Winter 2012 bei einem Solo-Trekking im nepalesischen Himalaya erstmals so richtig auf den Geschmack des Bergsteigens. Für sie war es eine lebensverändernde Erfahrung, die sie dazu inspirierte, sich eines der ehrgeizigsten Ziele ihres bisherigen Lebens zu setzen: die Besteigung der ‹Seven Summits›, der höchsten Berge auf jedem der 7 Kontinente. Bemerkenswert ist, dass sie alle Sieben innerhalb von vier Jahren beim ersten Versuch gestürmt und die Herausforderung am 18. Mai 2018 auf dem Gipfel des höchsten Berges der Welt, dem Mount Everest, erfolgreich abgeschlossen hat.

«Ich habe gelernt, dass man jedem Berg den gebührenden Respekt zollen muss», sagt sie. «Es geht nicht nur um das körperliche Training, sondern auch um die mentale Stärke, die man erlangt, wenn man alles dafür gibt, um sich auf die Besteigung eines bestimmten Berges vorzubereiten.»

Nach der Bezwingung der Seven Summits stellte sie sich neuen Herausforderungen und erkundete weitere atemberaubende Orte – den Polarkreis, die Sierra Nevada, Schottland, die Pyrenäen, die Alpen und Patagonien – diesmal auf ihrem Mountainbike.

Eine Frau, die einen Berg erklimmt
Alexandra Nemeth besteigt den Denali, den höchsten Berg Nordamerika; Alexandra Nemeth

Im Jahr 2020 beschloss sie, nach St. Moritz zu ziehen, um sich beruflich ganz der freien Natur zu widmen. Heute leitet sie unterschiedliche Touren, vom Schneeschuhwandern bis zum Mountainbiking. «Ich finde es toll, wenn ich Menschen helfen kann, ihre Grenzen zu überwinden und aus ihrer Komfortzone herauszukommen», sagt die ausgebildete Mountainbike-Führerin, Lauftrainerin, Hochgebirgs-Ersthelferin und angehende Bergführerin. «Das Glänzen in ihren Augen, wenn der Vollmond über den Gipfeln aufgeht, oder das Lächeln, wenn wir durch die spektakuläre Alpenlandschaft fahren, ist unbezahlbar.»

Nemeth liebt die ‹Engadiner Farben› – das Türkis der Seen, das Goldbraun und das tiefe Grün der Wälder, das Weiss der schneebedeckten Gipfel: «Diese Berge sind Futter für die Seele.» Man kommt von einer Klettertour zurück und fühlt sich innerlich reich. Ich bin sehr privilegiert, jetzt das Engadin als meinen Spielplatz betrachten zu können. Es ist wirklich einer der schönsten Regionen der Welt, und ich bin schon viel herumgekommen», lacht sie.

Vater und Tochter gehen auf einen Bergsee zu
John Kaag mit seiner Tochter zu Besuch im Engadin

JOHN KAAG, PHILOSOPH

Der Philosoph, Autor und Professor an der University of Massachusetts John Kaag besuchte das Engadin mit 19 und dann erneut im Alter von 36 Jahren. Das erste Mal war es, um zu wandern und auf den Spuren von Friedrich Nietzsche über dessen Ideen zu reflektieren und in dessen Sommerhaus zu wohnen. Beim zweiten Mal nahm er Frau und Tochter mit. Er wollte herausfinden, ob Nietzsches Vorstellung, dass man mit sich selbst ins Reine kommen kann und muss, um ein erfülltes Leben zu führen, auch im späteren Leben gilt. Aus dieser Erfahrung entstand Hiking With Nietzsche, das 2018 bei Granta Books erschienen ist.

«Wie bleibt man wach für das Leben an der Schwelle der Lebensmitte, wenn das Dasein unerträglich langweilig sein kann? Wie bringt man seine Träume mit den Pflichten des Erwachsenseins in Einklang? Das Nachdenken über diese Fragen machte meine zweite Reise dorthin zu einem ganz anderen Erlebnis als die erste», sagt Kaag mit einem Lächeln. Nicht zuletzt deswegen, weil er als Vater nicht mehr die starke Antriebskraft und den Übermut verspürte, der ihn bei seinem ersten Besuch zu einer 15-stündigen Wanderung verleitet hatte, bei der er sich verirrte und dann drei Nächte in der Wildnis zubringen musste.

«Nietzsche sagt, wenn man im Alter einen Berg besteigt, wird einem bewusst, dass man sterblich und fehlbar ist. Er nannte das ‹amor fati› – die Liebe zum Schicksal, was bedeutet, dass man diese Tatsachen bejahen und lieben lernt. Die Berge sind der Ort, an denen man sich seine Grenzen und seine Endlichkeit wirklich eingestehen kann», erklärt Kaag. «Es ist das Gefühl des Erhabenen, das einen gleichzeitig erhebt und erdrückt.»

Und gerade in den Engadiner Alpen – und vor allem beim Wandern – sei diese Lektion am deutlichsten zu spüren, meint Kaag. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass das Gehen den Blick öffnet und eine gewisse physische, aber auch kritische Distanz zu den Dingen schafft, die ihn normalerweise einschränken. Aber es ist auchdie Wirkung dieses so speziellen Flecks der Welt.

«Die Alpen sind einzigartig in dem Sinne, dass sie am Fuss sehr zivilisiert sind – die Wiesen, die grossen Hotels, die einen als Zuschauer und Romantiker anziehen können – aber wenn man hinaufaufsteigt, lässt man die Zivilisation sehr schnell hinter sich. Dort oben gibt es keine Hyperbel. Alles ist wirklich», sagt er. «Es ist ein Ort der Selbstakzeptanz. Und ich habe tatsächlich etwas Derartiges gefunden. Ich habe Einsichten in das Gute, das Schlechte und das Hässliche in mir selbst gewonnen.»

Bunte Landschaftsmalerei von Bergen und Seen
View of Muottas Muragl II von Luke Piper

LUKE PIPER, KUNSTLER

Luke Piper arbeitet notgedrungen mit hoher Geschwindigkeit, im Wettlauf mit dem Wetter, manchmal im Kampf mit seiner Umgebung. «Mir sind schon mehrmals Farbkästen abhanden gekommen, während ich auf einem Felsen hockte, Windböen haben die Leinwand weggeweht und Regen hat die Farben verlaufen lassen», sagt der renommierte englische Maler, der kürzlich seine Werke von St. Moritz und Umgebung in einer Ausstellung zeigte. «Aber ich arbeite gerade deshalb nicht in einem Studio, weil ich immer hoffe, diese ganz persönliche 1:1-Erfahrung an einem Ort zu machen. Auf diese Weise ist die Palette begrenzt, aber man gewinnt das Gefühl der Unmittelbarkeit. Man verstrickt sich tief in den Ort, an dem man sich befindet.»

Für seine Aquarellserie ‹Summer of Love› in St. Moritz verbrachte Piper, der als Sohn des Künstlers Edward Piper und der Keramikerin Prue Piper sowie als Enkel der Librettistin Myfanwy Piper und des Malers und Grafikers John Piper einen langen künstlerischen Stammbaum vorweisen kann, einige Zeit in Norditalien und der Südschweiz. Anders als die meisten künstlerischen Darstellungen dieser Gegend, wollte er An- und Aussichten ohne Schnee festhalten.

Malerei des St. Moritzersees
View from Via Somplaz, St. Moritz von Luke Piper

«Die Kraft der Natur ist dort so überwältigend, weil der Einfluss des Menschen auf die Umwelt so gering ist – in manchen Gegenden sieht man nur einen grob angelegten Weg», sagt er und verweist auf die lange Geschichte von Künstlern, die sich von der Region haben inspirieren lassen. «Der Charakter der Landschaft geht unter die Haut, besonders in den Höhenlagen. Es ist diese vollkommene Reinheit. Und die Dimensionen, sowohl auf der Makroals auch auf der Infinitesimal-Ebene.»

Glücklicherweise zahlen sich die gelegentlichen Strapazen der Malerei in der freien Natur in der Regel aus, denn Piper geingt es immer wieder, die Erhabenheit des Engadins in seinen Aquarellen, Tuschzeichnungen und Pastellen aufs Schönste einzufangen. «Geburt, Leben, Tod – all das gehört zur Landschaft dazu», sagt er. «Man würde erwarten, dass einen die Berge kleiner machen. Aber tatsächlich glaube ich, man spürt, wie die menschliche Aura grösser wird.»

Alexandra Nemeth führt private Schneeschuh- und Fatbiketouren (mit geländegängigen Fahrrädern mit überdimensionalen Reifen) im Engadin. Um 1hr Abenteuer zu buchen, wenden Sie sich an das Hotelpersonal.

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