Es hat etwas Magisches, hoch oben in den Bergen in einen kalten See oder Bach einzutauchen – ganz besonders nach einer schweisstreibenden Wanderung. Wenn man nach und nach seine Kleider ablegt und das Prickeln des kühlen Wassers auf der Haut spürt, kann es einem buchstäblich den Atem rauben.
Es ist, wie Robin Deakin, Umweltschützer und Liebhaber des Schwimmens in natürlichen Gewässern, sagte, eine Art Alice-in-Wonderland-Erlebnis. «Wenn man ins Wasser steigt, passiert so etwas wie eine Metamorphose», schrieb er in seinem Logbuch eines Schwimmers. «Wenn man das Festland hinter sich lässt, geht man durch die gläserne Oberfläche und betritt eine neue Welt.»
Wildes Schwimmen ist nicht neu – die Hollywood-Schauspielerin Katharine Hepburn schwamm bis weit in ihre 80er Jahre jeden Morgen vor der Küste von Connecticut – aber er erfreut sich enormer Popularität. Zu seinen prominenten Anhängern gehören die Modedesignerin Victoria Beckham (die in ihrem Garten einen See angelegt hat) und das Supermodel Helena Christensen. Einem von der Zeitschrift Outdoor Swimmer veröffentlichter Bericht war zu entnehmen, dass vor allem jüngere und weibliche Schwimmer sich dafür begeistern.
Ein Grund für das grosse Interesse am Wildschwimmen sind die zahlreichen gesundheitlichen Vorteile, die Wissenschaftler gerade erst entdeckt haben. Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, wie Kaltwasserschwimmen die Stimmung heben kann. Aber nicht nur das, auch das Gehirn profitiert: So hat eine aktuelle Studie der Universität Cambridge gezeigt, dass Schwimmen in kaltem Wasser Demenz vorbeugen kann. Die Forscher berichten, dass Kaltwasser-Schwimmer höhere Werte eines Proteins aufweisen, das die Synapsenbildung anregt, was die Degeneration der Gehirnzellen reduzieren könnte.
Eine weitere Studie, die im British Medical Journal Case Reports veröffentlicht wurde, liess den Schluss zu, dass Schwimmen in kaltem Wasser zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden kann. Der Bericht deutet darauf hin, dass der Schock des kalten Wassers den Körper in einen Stresszustand versetzt und ihn so auf andere Belastungen, wie sie mit Depressionen und Angstzuständen verbunden sind, vorbereitet. Dies ergänzt die Vorteile des Aufenthalts in der freien Natur : Eine andere aktuelle Studie, die in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde, ergab, dass 120 Minuten pro Woche in der Natur das Wohlbefinden zusätzlich steigern.
«Beim Schwimmen benötigen Sie lange Muskelbewegungen und eine tiefe, kontrollierte Atmung. Dies trägt dazu bei, das Gehirn zu stimulieren, um die Entwicklung der Nervenzellen zu fördern und die Produktion von Endorphinen und anderen Stress abbauenden Chemikalien zu unterstützen», so Sporttherapeutin und ehemalige Spitzensportlerin Karen Mack von der Wellness-Marke Well Lab. «Es ist erwiesen, dass schon allein das regelmässige Schwimmen von einer halben Stunde den guten Schlaf fördert und die Häufigkeit von Depressionen und Angstzuständen zu verringern hilft.»
Es ist bekömmlich für den Körper und auch für das Gehirn. Andere Studien haben ergeben, dass regelmässiges Schwimmen in kaltem Wasser Entzündungen sowohl in den Muskeln als auch auf zellulärer Ebene verringert und damit den Bluthochdruck beeinflusst.
In der Schweiz, wo Steffan Daniel, der Autor von Wild Swim lebt, erfreut sich das wilde Schwimmen grosser Beliebtheit. «Die Schweizer lieben das Schwimmen in der freien Natur. Für viele ist es ein Teil des täglichen Lebens», sagt er. «Die Leute beobachten die Wassertemperatur genau, und wenn sie gerade noch erträglich ist, sieht man eifrige Schwimmer, die sich an den Ufern der Flüsse oder Seen auf einen Sprung ins Wasser vorbereiten. Es ist ganz normal, in der Schweiz Menschen flussabwärts schwimmen zu sehen, sogar mitten in den grossen Städten wie Zürich, Bern und Basel.»
Wirklich hartgesottene Wildschwimmer springen ungeachtet der Jahreszeit in die natürlichen Gewässer, manche sogar mithilfe eines Eispickels. Aber für die meisten ist das Schwimmen erst dann ratsam, wenn das Wetter im Frühling wärmer wird. Wenn der Körper nicht durch tägliches Schwimmen an extrem kalte Temperaturen gewöhnt ist, kann es äusserst gefährlich sein.
Einer der schönsten Orte der Welt, um ein Bad in der Natur zu nehmen, ist das Engadin. «Ich liebe das Engadin vor allem wegen der vielfältigen Landschaft und der Zugänglichkeit zur Natur», sagt Daniel. «Die Region verfügt über einige der schönsten Wassersportgebiete des Landes, wie den Silvaplanersee, einen Traum für Windsurfer, der von hohen Bergen umgeben ist. In den Wäldern um St. Moritz gibt es auch einige ganz besondere, abgelegene Badestellen, an denen man mitten auf der Wanderung ein Bad nehmen kann. Ein Muss für jeden Besucher.»
Ein Blick auf den St. Moritzersee beim Frühstück im Badrutt’s Palace Hotel macht Lust auf ein Bad im kalten Wasser. Fünf Gehminuten von der olympischen Skisprungschanze in St. Moritz entfernt liegt der Lej Marsch in einem bewaldeten Moorgebiet, das Teil eines Naturschutzgebietes ist. Ein anderer See – der Lej Nair – erhält seine charakteristische Farbe durch die dunklen, torfigen Böden der Hochmoorwiesen. Die Sonnenuntergänge (und Sonnenaufgänge, wenn Sie ein Frühaufsteher sind) spiegeln sich für den Betrachter idyllisch in den Seen und verleihen dem Wasser eine angenehme Wärme.
Daniel sagt, dass er es liebt, mit einer Karte und seiner Badehose die Landschaft zu erkunden. «Ich bin immer auf der Suche nach einem belebenden Sprung ins kühle Nass nach einem langen Tag beim Radfahren oder Wandern in den Bergen – ich kann mir keine bessere Art der Erholung vorstellen», sagt er. «Man ist mit der Natur verbunden und entdeckt neue Orte – ich finde, dass man an den abgelegensten Orten die schönsten Schwimmerfahrungen macht.»